Mit dem Herzen sich empören über Heuschrecken und Massenmorde

Besprechung von
Arundhati Roy:
Aus der Werkstatt der Demokratie
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2009

Auf Heuschrecken zu achten, so der erste Teil des Originaltitels von Arundhati Roys Buch, rät uns die Autorin, meint damit aber nicht nur Insekten, die in ein Dorf einfallen. Diese Tiere sind ein schlechtes Omen. Roy lässt sie künden von Völkermorden, die sich die indische Regierung hat zuschulden kommen lassen, und von schleichender rassischer/ethnischer/religiöser Diskriminierung. Aber nicht nur. Wie Roy an internationalen und historischen Beispielen zeigt, haben Heuschrecken klare ökonomische Interessen, die sie als „Fortschritte“ deklarieren. Im heutigen Indien sind dies der Bau von Dämmen, die Vernetzung von Flüssen, Bergbauvorhaben und die Zerstörung von Wäldern. Diese von ihr als Ökozid bezeichnete Vorhaben sind eng mit Genozid verbunden, mit Vertreibung und einem „Kampf um Lebensraum“.

Der verharmlosende deutsche Titel, der außer auf die bildliche Darstellung einer Heuschrecke auf dem Umschlag auf das Symboltier verzichtet hat, bereitet die LeserInnen nicht auf den schockierenden Inhalt vor: auf von der Regierung tolerierten Massenmorde an Muslimen im Namen eines hinduistischen Nationalismus, auf eklatante Unrechtshandlungen der Justiz bei der Verfolgung eines angeblichen Attentäters und auf die Vorgehensweise indischer Besatzer in Kaschmir.

Roy schreibt aus vollem Herzen. So sollten ihre im Zeitraum von 2002 bis 2008 entstandenen Texte auch mit dem Herzen gelesen werden. Andernfalls wird es z. B. aufstoßen, dass sie zwar den von ihr verwandten Genozidbegriff klar definiert, Faschismus dagegen synonym für vom Staat begangene oder geduldete Gräueltaten gegen Minderheiten benutzt.

Besonders zu Herzen gehen die Texte, in denen sie das Szenario eines Ausverkaufs Indiens an Konzerne schildert, die das Land ausbeuten. Oder wenn sie fiktiv die Konkurrenz zweier künstlichen Schnee produzierenden Unternehmen ausmalt, die ihren Profit aus dem Klimawandel machen.

Aber das Buch verärgert auch: Ihre Texte sind rein chronologisch zusammengestellt, statt sie thematisch zu ordnen; sie sind für verschiedenen Veröffentlichungen geschrieben, daher wiederholen sich manche Passagen und sie enden 2008. So bleiben LeserInnen im unklaren, welchen Ausgang die detailliert beschriebenen Fälle genommen haben bzw. wie der heutige Stand ist. Eine kurze Notiz, etwa bzgl. des zum Tode verurteilten angeblichen Terroristen, dem immerhin   drei Artikel gewidmet sind, hätte genügt. Da hat es sich der Verlag etwas zu einfach gemacht.

 

Dennoch empfiehlt sich die Lektüre des Buchs auf drei Ebenen:

  • Es enthüllt schonungslos die Verlogenheit des Selbstbilds der größten Demokratie der Welt.
  • Es fasziniert durch die Roy eigene metaphernreiche Sprache, die sich wohltuend vom gängigen Politjargon abhebt und dadurch um so eindringlicher, erschütternder ist.
  • Es bringt uns die Autorin näher:
    ihr politisches Engagement, ihre Bescheidenheit, wenn sie die eigenen Rolle nicht in den Vordergrund stellt und selbst die Bedrohung, der sie ausgesetzt war, nur nebenbei erwähnt,
    ihren Mut, die eigene Entwicklung offen zu legen, wenn sie sich im Januar 2008 noch für das Recht von Menschen ausspricht, sich mit allen notwendigen Mitteln gegen Ausrottung zu wehren, dann aber im August 2008, als sich der Aufstand in Kaschmir dem Islam und Pakistan verschreibt, Kritik an dessen Ziel eines monolithischen religiösen Staates übt.

Ursula Müller
11.8.2010